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Wir sprachen mit Dr. Ursula Kramer, Apothekerin und Gründerin der der Qualitätsplattform HealthOn, die die Qualität, Sicherheit und Anwenderfreundlichkeit von Gesundheits-Apps testet.

Frau Dr. Kramer, wie erklären Sie sich die wachsende Beliebtheit von Gesundheits-Apps?

Zum einen durch die größer werdenden Versorgungslücken im Gesundheitswesen. Schauen wir uns zum Beispiel die psychischen Erkrankungen an – über ein Drittel der verschreibungspflichtigen Apps fällt in diesem Bereich, das sind die so genannten „Mental Health Apps“. Patienten warten oft Monate, manchmal sogar Jahre auf einen Termin beim Psychotherapeuten. Betroffene fühlen sich oft allein gelassen. Oder nehmen wir den Bereich der Physiotherapie. Wer einen Termin in einer Praxis machen will, wird feststellen: das ist gar nicht so einfach.

Dr. Ursula Kramer ist Apothekerin und Gründerin der der Qualitätsplattform HealthOn.

Dr. Ursula Kramer ist Apothekerin und Gründerin der der Qualitätsplattform HealthOn.

Und hier können die Apps Ersatz bieten?

An das direkte Feedback durch einen Physiotherapeuten kommt eine App natürlich nicht ran. Dennoch ist es verblüffend, was manche Programme inzwischen leisten können. Es gibt Rücken-Apps, die scannen und vermessen einen und geben noch während der Übung eine Rückkopplung: Stimmt der Winkel meiner Bewegungen? Nochmal: Eine App ersetzt keinen Arzt oder Therapeuten. Wenn wir aber über Erkrankungen sprechen, die eine Lebensumstellung erfordern, muss man sagen: die muss im Kern von den Patienten selbst in Angriff genommen werden.

Bei der Adipositas etwa, ein klassisches Anwendungsgebiet für Medizin-Apps. Jeder fünfte Deutsche ist von der extremen Form des Übergewichts betroffen. Auf der Suche nach Unterstützungsmöglichkeiten fällt auf: da gibt es wenig. Und das, was es gibt, reicht kaum für eine dauerhafte Verhaltensänderung.

Dann sehen Sie die von den Krankenkassen angebotene Ernährungsberatung kritisch?

Schauen Sie, üblicherweise werden hier fünf Beratungen erstattet. Das genügt natürlich nicht, um das Essverhalten dauerhaft zu verändern. Außerdem beschränkt sich die Erstattung der Kosten auf 80 Prozent, den Rest müssen die Patienten selbst bezahlen. Bei verschreibungspflichtigen Apps reden wir dagegen von einer 100-prozentigen Kostenübernahme, sie werden zunächst für drei Monate verordnet.

Die nicht verschreibungspflichtigen Apps können dagegen ganz schön ins Geld gehen. Viele Anbieter sollen inzwischen auf Abo-Modelle setzen…?

Ja, und das macht ja auch durchaus Sinn, denn die Verhaltensänderungen, die mit Hilfe der App erzählt werden sollen, kommen nicht von jetzt auf gleich. Man muss dranbleiben, gute Vorsätze oder kurzfristige Trainings reichen nicht. Ein Abo hilft aber natürlich nur, wenn es auch genutzt wird.

Ein bisschen ist das wie bei einem Vertrag mit einem Fitnessstudio, den man abschließt: Bei einer längeren Vertragslaufzeit wird der monatliche Preis prozentual niedriger. Wenn ich regelmäßig trainieren gehe, lohnt das. Wenn ich die Lust am Sportclub verliere, habe ich Geld umsonst ausgegeben. Bei vielen Apps hat man eine Testphase von 14 Tagen. Nach diesem Zeitraum sollte ich zumindest wissen, ob ich mit der Anwendung grundsätzlich zurechtkomme. Beim Durchhaltevermögen sieht es anders aus. Da sind Menschen individuell verschieden und da sollte man sich so ehrlich wie möglich prüfen.

In jedem Fall sollte man vor Vertragsabschluss wissen, wie das Abo genau funktioniert. Läuft es nach einer bestimmten Zeit aus? Läuft es automatisch weiter? Wie kann ich kündigen? Wenn der Anbieter mich hier im Unklaren lässt, würde ich einen anderen suchen.

Wo genau sehen Sie neben einer gewissen Auffangfunktion, wenn „echte“ Experten fehlen, einen weiteren Mehrwert von Gesundheits-Apps?

Die App ist, wenn man will, immer dabei, kann personalisierte Tipps geben, motivieren, erinnern. An die Einnahme von Medikamenten beispielsweise. Die prompten Feedbacks – manchmal spielerisch, in Form von Pokalen als Belohnung für ein „gutes“ Verhalten – sind eine echte Stärke der Anwendungen. Ebenso der Überblick übers Geschehen, den man bekommt.

Nehmen wir den Patienten mit Reizdarm. Beim Arztbesuch wird er vermutlich vor allem berichten, was er in den letzten Tagen erlebt hat. Die Aufzeichnungen der App – hier können beispielsweise Ernährungs- und Symptomtagebücher geführt werden – lassen dagegen bislang vielleicht nicht erkannte Zusammenhänge bewusstwerden. Wie ist die Erkrankung im zeitlichen Verlauf zu verstehen? Wo gab es Ausreißer? Klar, ein Ernährungstagebuch kann auch in Papierform geführt werden. Mich selbst würde die Zettelwirtschaft eher abschrecken.

Wie kann ich als Verbraucher sicher sein, bei der Wahl einer Gesundheits-App nichts falsch zu machen?

Bei nicht verschreibungspflichtigen Apps bewegen wir uns in einem vom Gesetzgeber nicht regulierten Markt, es gibt quasi keine Kontrollinstanz, was die Richtigkeit und Sicherheit der medizinischen Unterstützung dieser Anwendungen anbelangt. Wir haben für eine grobe Orientierung eine Checkliste entwickelt. Generell kann jeder, der ein gewisses Maß an technischer Expertise hat, eine Gesundheits-App im App-Store anbieten. Und selbst, wenn die App von „Therapeuten“ gemacht ist, spricht das nicht unbedingt für fachliche Expertise: Der Begriff „Therapeut“ ist nicht geschützt, im Grunde kann sich jeder so nennen. Mit wem habe ich es zu tun, wer steckt hinter der App? Kann ich den Angaben vertrauen? Das sind wichtige Fragen.

Wo finden die Verbraucher Antworten?

Seriöse Apps stellen das Konzept vor, das hinter einer Anwendung steckt. Aus dem Impressum, das im Menü der App auffindbar sein sollte, ist klar ersichtlich: Wer bietet was an und auf Grundlage welcher Qualifikation? Eine gute App gibt hierzu umfassende weiterführende Informationen. Das Verfahren, auf der die Anwendung aufbaut, wird transparent erklärt und durch wissenschaftliche Fakten belegt. Studien werden nicht nur genannt, es gibt Quellenangaben. Auch sehe ich nicht irgendwelche Fotos von Menschen, beispielsweise im weißen Kittel im Patientengespräch. Die gezeigte Person wird klar benannt. Ich erfahre, welche Funktion und Qualifikation sie hat und welche Rolle sie hier, im Rahmen der App, spielt.

Bei Apps, für die bezahlt wird, lassen sich relevante Informationen in aller Regel leicht finden. Wer unterstützt mich, womit und warum? Das ist klar kommuniziert. Bei Gratis-Produkten ist das manchmal nicht der Fall. Wenn ich solche Informationen nicht finden kann, sollte ich abwägen: Glaube ich, dass ich von der Nutzung der Anwendung trotzdem profitiere und gehe das Risiko ein?

Welches Risiko?

Die Frage ist doch: mit welcher Währung bezahle ich, wenn die Nutzung der App kostenlos ist? Sind das vielleicht meine Daten? Die Apps kommen teilweise aus aller Welt, aus Asien oder den USA, wo man als Nutzer nur wenig nachverfolgen oder prüfen kann.

Fakt ist: Die europäische Datenschutzgrundverordnung hilft wenig, wenn sich der Server im nicht europäischen Ausland befindet. Auch, wenn ich Datenschutzbestimmungen nur in englischer Sprache finde, wäre ich auf jeden Fall vorsichtig. Es ist ja schon schwer, Datenschutzerklärungen in der deutschen Sprache einigermaßen zu durchblicken.

Ganz grundsätzlich würde ich sagen: je kränker ich bin oder auch je sensibler die Information, desto vorsichtiger sollte ich als Verbraucher:in sein. Beispiel Kinderwunsch- oder Zyklus-App: Will ich wirklich, dass jemand derart intime Dinge über mich und meine Partnerschaft erfährt? In einem anderen Kontext können Gesundheits-Apps allerdings gerade im Hinblick auf das Teilen von Daten von großem Nutzen sein.

In welchem?

Bestimmte Bereiche in der App können auf Wunsch vernetzt und dann von mehreren Menschen gemeinsam genutzt werden. So können sich Netzwerke von Gleichgesinnten bilden, für einen Austausch, das kann unterstützend oder motivierend wirken. Auch die Vernetzung mit Angehörigen kann sehr hilfreich sein, um aus dieser Richtung Support zu bekommen. Bei auffälligen Werten oder anderen eingegebenen Auffälligkeiten kann das Umfeld sich einklinken: ich habe den Eindruck, da läuft was schief - wie kann ich dich unterstützen?

In der gemeinsamen Nutzung von Gesundheits-Apps oder dem Finden von Schnittstellen – etwa, wenn Patienten ihre Symptome oder Messwerte aus ihren Tagebüchern mit Ärzten teilen – zeigt sich das Potenzial der digitalen Helfer aus meiner Sicht besonders gut. Als ergänzende Maßnahme. Nicht als Therapeuten-Ersatz wie gesagt.