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Die Digitalisierung ist in unserem Alltag mittlerweile omnipräsent. Ich kann eine Reise von Berlin nach München komplett mit meinem Smartphon regeln: Bus- und Bahntickets kaufen, meinen Kaffee bezahlen und am Bahnhof per App ein Fahrrad mieten. Was vor einigen Jahren noch nach ferner Zukunft klang, ist für viele Menschen mittlerweile Normalität. Natürlich muss man das nicht alles gut finden, aber Fakt ist, dass digitale Lösungen uns immer mehr Aufgaben erleichtern oder gar ganz abnehmen.

Auch vor der Gesundheitsbranche macht die Digitalisierung nicht Halt. Als Mitgründer von Kianava, Anbieter für Integrative Telemedizin für Menschen mit chronischen Gesundheitsproblemen, beobachte ich diese Veränderung aufmerksam. Denn auch wenn sich bereits viel getan hat, stehen Digital-Health-Start-ups wie wir in Deutschland immer noch vor Herausforderungen.

Corona als Beschleuniger

Dass die Digitalisierung der Gesundheitsbranche unabdingbar ist, zeigt uns gerade die Corona-Pandemie. Sie hat viele Prozesse beschleunigt und den Weg für digitale Alternativen geebnet. Nachdem Telemedizin in anderen Ländern, beispielsweise der Schweiz, schon seit über 20 Jahren möglich ist, ist sie nun auch in Deutschland angekommen. Laut McKinsey-Studie (ehealth Monitor 2020) boten im Frühjahr 2020 bereits 52 Prozent der Ärzte eine Videosprechstunde an.

Tatsächlich ist Deutschland jetzt das erste Land weltweit in dem  Ärzt:innen eine digitale Anwendung (DiGA) verschreiben können. Dies ist  ein wichtiger Innovationsschub für die Gesundheitsbranche in  Deutschland, löst aber noch nicht alle Probleme.

Steigender Bedarf nach medizinischer Versorgung

Pandemien wie diese und der demographische Wandel werden die  Nachfrage nach guter medizinischer Versorgung weiter rasant ansteigen  lassen –  und ebenso die Kosten und logistischen Anforderungen, um  dieser Nachfrage gerecht zu werden.

Schon jetzt zeigt sich ein stark erhöhter Behandlungsbedarf im Bereich mentale Gesundheit, der durch digitale Angebote abgefedert  werden kann. Auch die Nachversorgung, beispielsweise nach einem  Klinikaufenthalt, kann hervorragend digital begleitet werden.

Nicht zuletzt ist die Digitalisierung für Menschen, die auf dem Land leben oder nur eingeschränkt mobil sind, eine echte Hilfe. Neue digitale Angebote können hier eine echte Hilfe sein und sollten bestmöglich durch unser Gesundheitssystem gefördert werden.

Mehr Zeit für Patient:innen

Digitale Lösungen ermöglichen es uns, diesem Bedarf gerecht zu werden und den behandelnden Personen wieder mehr Zeit für Patient:innen zu geben. Ein gutes Beispiel ist die Dokumentation und Kommunikation mit Patient:innen. Wir hören immer wieder, dass Patient:innen es leid sind, ihren Fall in jeder Praxis neu zu schildern.

Bei einer durchschnittlichen Zeit von acht Minuten pro Patient:in müssen die Ärzt:innen in der Regel schon wieder weiter, bevor sie zum eigentlichen Problem kommen. Das ist gerade für Menschen mit chronischen Erkrankungen, die sich auf der Suche nach einer Lösung in vielen Praxen vorstellen, eine wahre Tortur.

Wer hat es nicht schon erlebt? Bei jedem Praxisbesuch werden dieselben Papierformulare erneut ausgefüllt, und abgelegt, ohne dass  der Arzt sie ansieht. Müssen Ärzt:innen, Therapeut:innen und medizinische Fachkräfte sich nicht mehr mit administrativen Tätigkeiten aufzuhalten, können sie sich mehr Zeit für die eigentliche Behandlung und das persönliche Gespräch mit den Patient:innen nehmen.

Somit kann die Erfüllung eines Grundbedürfnisses der Menschen, nämlich "wirklich gehört zu werden", durch digitale  Unterstützung wieder zur Regel  statt  zur Ausnahme werden.

Deutschlandweit und zu (fast) jeder Zeit

Bei Kianava sehen wir schon jetzt die hohe Nachfrage und die Vorteile der digitalen, vernetzten und patient:innenorientierten Medizin.  Unabhängig von ihrem Wohnort können Patient:innen auf Ärzt:innen und Therapeut:innen in ganz Deutschland zugreifen, die zusammen als Team an der Gesundheit der jeweiligen Patient:in arbeiten.

Dank der Telemedizin können wir Patient:innen im Erstgespräch eine Stunde Zeit geben bevor ein individueller Behandlungsplan erstellt  wird. Dieser und die Patientenakte kann von den betreuenden medizinischen Fachkräften eingesehen und gepflegt werden. Insbesondere chronisch erkrankte Menschen – also jede dritte Person in Deutschland – profitieren von diesem Ansatz.

Flexibilität für Ärzt:innen und Therapeut:innen

Doch eine effektive digitale Dokumentation und mehr Zeit für eine  umfassende Anamnese sind nicht nur für die Patient:innen eine positive Erfahrung: Viele Ärzt:innen und Therapeut:innen genießen die  Flexibilität, die die Telemedizin ihnen bietet.

Einerseits verspüren sie durch die effizienten Prozesse weniger Stress und Druck und können ihrem Beruf besser, weil entspannter, nachkommen. Andererseits können sie auch ihren Beruf und ihr Privat- und Familienleben leichter vereinbaren.

Leider sehen noch nicht alle handelnden Personen in der Gesundheitsbranche die Vorteile der Digitalisierung für ihre Arbeit. Um eine nachhaltige Transformation zu erreichen, sollten digitale Kompetenzen bereits in der Ausbildung der Ärzt:innen mehr gefördert  werden.

Denn am Ende entscheidet der Leistungserbringer wie erfolgreich  digitale Hilfsmittel im Sinne der Patient:innengesundheit eingesetzt   werden. Hier müssen Ängste durch Aufklärung genommen und die  Vorteile  von Telemedizin prominenter kommuniziert werden.

Patient:innen im Fokus

Mittlerweile haben jedoch viele Entscheider:innen auf allen Ebenen   des Gesundheitssystems verstanden, dass wir gute digitale Lösungen  brauchen. Sie sehen die Chancen für eine bessere Patient:innenversorgung und Kosteneinsparungen. Die Personen und  Unternehmen, die sich jetzt ernsthaft um digitale Lösungen bemühen,  sind für die Zukunft bestens aufgestellt.

Wichtig ist dabei, immer aus Patient:innensicht zu denken und die   Erfahrungen und Bedürfnisse der Patient:innen im Digitalisierungsprozess bei jedem Schritt miteinzubeziehen.Silo-Lösungen und umständliche Angebote, beispielsweise mit mühsamen Anmeldeprozessen oder wenig nutzerorientierten Lösungen, die dem System aber nicht der Patient:in gerecht werden wollen, werden sich dabei erfahrungsgemäß nicht durchsetzen.

Die richtigen Rahmenbedingungen schaffen

Aktuell scheitern Digital-Health-Startups aber noch zu oft an veralteten Denkweisen und Gesetzgebungen. Das muss sich ändern. Es  müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die innovative Lösungen fördern.

Wir müssen den Mut haben, uns von alten Strukturen zu lösen und  neue Wege einzuschlagen. So sollten neue Ideen beispielsweise  immer anhand ihres Potenzials und nicht basierend auf alten Paragrafen  oder nach etablierterter Systemdenke beurteilt werden.

Zudem dürfen  bereits existierende, analoge oder nur halbherzig durchdachte digitale  Lösungen nicht genutzt werden, um echte, effektive und  patient:innenfreundliche Innovationen auszubremsen.

Ich wünsche mir, dass wir alle gemeinsam die Chance nutzen, die uns die Digitalisierung bietet, um die Medizin wieder menschlicher,  individueller und somit besser für alle zu machen. Hier muss die Politik und alle Beteiligten weiter an den richtigen Rahmenbedingungen arbeiten, um eine wirklich positive Veränderung unseres Gesundheitssystems zu ermöglichen.

Es wurde in den letzten zwei bis drei Jahren schon viel bewegt, doch wir dürfen uns auf diesen ersten Schritten nicht ausruhen - damit gute, digitale Medizin auch endlich bei uns Alltag wird.

Zur Person

Saman Hashemian ist Gründer und CEO von Kianava, dem ersten Anbieter in Europa für Integrative Telemedizin für Menschen mit chronischen Erkrankungen. Nach über 10 Jahren Start-up-Erfahrung bei erfolgreichen Firmen (Delivery Hero, Babbel, 8fit) möchte er die Chancen der Digitalisierung nutzen, um ergänzend zum bestehenden Gesundheitssystem einen Beitrag zu einer gesünderen Gesellschaft zu leisten. Als ausgebildeter BWLer und Arztsohn kennt er beide Welten und deren Herausforderungen sowie Chancen.