"Wir wollen Versorgungslücken bei psychischen Erkrankungen schließen“
Ich bin klinischer Psychologe in einem psychiatrischen Krankenhaus in Nürnberg und biete dort Einzel- und Gruppentherapien für Menschen mit psychischen Erkrankungen an. Dieser Job ist wichtig, denn von den 3,4 Millionen Menschen, die in Deutschland pro Jahr aufgrund einer psychischen Erkrankung, zum Beispiel einer Depression, Angststörung, Alkoholabhängigkeit oder Essstörung, Hilfe im Versorgungssystem in Anspruch nehmen, werden etwa 1 Million Menschen in einem Krankenhaus behandelt. Der Bedarf ist also immens.
Die Krankenhausbehandlung ist eine wichtige Stabilisierung in Krisenzeiten. Leider kenne ich aus meinem klinischen Alltag auch nur zu gut, was danach folgt: Mit der Entlassung aus dem Krankenhaus finden sich viele Patient:innen in einer äußerst schwierigen Situation wieder. Der Weg zur Genesung ist noch lang und weiterführende Behandlungen zur Krankheitsbewältigung sind dringend nötig, aber nur die wenigsten Menschen erhalten ohne längere Wartezeiten eine Folgetherapie.
Nach dem Krankenhaus ist vor dem Krankenhaus
Diese prekäre Versorgungssituation hat aus meiner Sicht folgende Gründe: Schnittstellenprobleme auf Ebene der Behandler:innen verhindern die erfolgreiche Weiterbehandlung von Patient:innen, zum Beispiel weil es keine systematische Anbindung aus der Klinik in ambulante Psychotherapiepraxen gibt.
Das bedeutet, dass wir schlicht nicht wissen, wer im ambulanten Bereich gerade freie Kapazitäten anbieten kann und entlassen Patient:innen somit häufig mit der Empfehlung, sich eigenständig um eine Weiterbehandlung zu kümmern.
Eben diese Patient:innen sind aufgrund ihrer oftmals noch schweren Symptomatik und dem komplexen sowie teilweise intransparenten Versorgungssystem aber oftmals nicht in der Lage, sich nach der Entlassung eigenständig um eine Nachsorge zu bemühen. Zudem sind Therapieplätze in bestehenden Nachsorgeangeboten stark begrenzt, wodurch ich häufig erleben muss, dass Patient:innen viele Wochen auf eine Weiterbehandlung warten müssen.
Erhalten Patient:innen nach dem Krankenhausaufenthalt aber keine nahtlose Nachsorge, hat dies oftmals eine Wiederverschlechterung oder - im schlimmsten Fall - eine Chronifizierung der Krankheitssymptome zur Folge. Im Ergebnis müssen über 30 Prozent aller aufgrund einer psychischen Erkrankung im Krankenhaus behandelter Patient:innen innerhalb des ersten Jahres nach Entlassung rehospitalisiert, also erneut im Krankenhaus behandelt werden.
Ich sehe es leider nur allzu oft, dass wir Patient:innen schon bald nach der Entlassung wieder auf Station antreffen, weil sie es zuhause ohne Weiterbehandlung nicht geschafft haben. Das wirft die Betroffenen wieder zurück und der mühsam erarbeitete Therapieerfolg ist nicht selten wieder zunichte gemacht.
Digitale Nachsorgeangebote von mentalis
Zur Lösung dieses Problems habe ich gemeinsam mit einem Team aus Psycholog:innen, Programmierer:innen und Designer:innen die mentalis GmbH gegründet um digitale Nachsorgeangebote für Menschen mit psychischen Erkrankungen zu entwickeln.
Unsere Nachsorgeprogramme richten sich an Menschen, die in einem Krankenhaus behandelt wurden, sei es wegen einer Depression, Alkoholabhängigkeit, einer Essstörung oder Indikationen, bei denen Defizite in der Emotionsregulation im Vordergrund stehen.
Weil ich in meiner Forschungstätigkeit oft gesehen habe, dass digitale Programme im Bereich der psychischen Gesundheit besonders wirksam sind, wenn diese mit menschlichem Kontaktkombiniert werden, bieten wir bei mentalis Therapiet-Apps in Kombination mit psychologischen Tele-Coachings an.
Eine Besonderheit unserer Programme ist, dass sie auf die besondere Situation in der Nachsorge zugeschnitten sind: So werden passende Patient:innen noch in der Klinik vom Krankenhausteam über die digitale Nachsorge informiert und bei Interesse an passende Programme der mentalis angebunden.
Das bedeutet, dass die digitalen Nachsorgeprogramme nicht nur zeitlich nahtlos an die Krankenausbehandlung anknüpfen, sondern bereits im Krankenhaus eingeleitet werden, was die Akzeptanz und in Konsequenz auch die Nutzungs- und Erfolgsraten erhöhen kann.
"Bestehende Skepsis abzubauen braucht Zeit und Vertrauen"
Ich sehe in den Lösungen der mentalis ein besonderes Potential, aber wir erleben auch wie schwierig es sein kann, mit digitalen Angeboten neue Wege im Gesundheitssystem zu gehen. Denn damit wir erfolgreich sein können, braucht es auch immer die Kliniken, die bereit sein müssen ihr bisher alltägliches Handeln zu überdenken und zu erweitern.
Die Möglichkeit eine digitale Lösung wie unsere anzubieten, haben viele Krankenhäuser bisher noch nicht auf dem Schirm, bestehende Skepsis abzubauen braucht Zeit und Vertrauen.
Um dieses Vertrauen herzustellen, war der 1. Platz beim Digitalen Gesundheitspreis 2021 des Pharmaunternehmens Novartis sowie eine dabei vertretene Fürsprecherin aus einem Krankenhausverbund ein ganz wichtiger Meilenstein für uns. Arbeitet eine Klinik erstmal mit uns zusammen, begleitet unser Team die kooperierenden Krankenhäuser sehr engmaschig, unterstützt und klärt durch Fachvorträge über die Vorteile der digitalen Nachsorge auf.
Individuelle Behandlung
Inhaltlich fokussieren unsere digitalen Nachsorgelösungen auf die besondere Situation, vor der Patient:innen bei der Rückkehr aus dem Krankenhaus in den häuslichen Alltag stehen. Denn in der Nachsorge geht es zunächst um die weitere Stabilisierung und den Transfer von im Krankenhaus erzielten Therapieerfolgen.
Darüber hinaus setzen wir einen innovativen Algorithmus zur Individualisierung und Patient:innenorientierung der Programminhalte ein, wodurch unsere Apps therapeutische Übungen jenseits standardisierter "One-Size-Fits-All-Lösungen" anbieten können.
Diese Fokussierung auf die individuellen Bedürfnisse der Patient:innen kann durch das thematische Anknüpfen an die während der Krankenhausbehandlung bereits adressierten Problemstellungen sowie die ggf. bereits erarbeiteten Ansätze für deren Lösung ergänzt werden. Wie bereits erwähnt ist ein wesentlicher Bestandteil unserer digitalen Nachsorgeangebote der menschliche Kontakt zu Tele-Coaches.
Intersektorale Brückenbauer
Unser Coachingpersonal ist, vor dem Hintergrund der symptomatisch oftmals noch schwer belasteten Patient:innen in der Nachsorge, speziell für diese Personengruppe geschult und belgeitet die Nutzung der digitalen Nachsorgelösung systematisch. Es macht für unsere Patient:innen einen gewaltigen Unterschied, dass da jemand ist mit dem regelmäßig gesprochen werden kann.
Letztlich verstehen wir uns auch als intersektorale Brückenbauer. Denn sollten Patient:innen nach Abschluss der digitalen Nachsorge von mentalis eine Weiterbehandlung benötigen, kann die digitale Lösung die systematische Anbindung an weiterführende Therapieangebote fördern und somit die kontinuierliche Weiterversorgung unterstützen. Wir wollen die Angebote der Regelversorgung sinnvoll ergänzen und bestehende Versorgungslücken schließen.